§ 63
Die Krankenkassen und ihre Verbände können im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung zur Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Versorgung Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der Verfahrens-, Organisations-, Finanzierungs- und Vergütungsformen der Leistungserbringung durchführen oder nach § 64 vereinbaren.
Die Krankenkassen können Modellvorhaben zu Leistungen zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten, zur Krankenbehandlung sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft, die nach den Vorschriften dieses Buches oder auf Grund hiernach getroffener Regelungen keine Leistungen der Krankenversicherung sind, durchführen oder nach § 64 vereinbaren.
Bei der Vereinbarung und Durchführung von Modellvorhaben nach Absatz 1 kann von den Vorschriften des Vierten und des Zehnten Kapitels dieses Buches, soweit es für die Modellvorhaben erforderlich ist, und des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, des Krankenhausentgeltgesetzes sowie den nach diesen Vorschriften getroffenen Regelungen abgewichen werden; der Grundsatz der Beitragssatzstabilität gilt entsprechend. Gegen diesen Grundsatz wird insbesondere für den Fall nicht verstoßen, daß durch ein Modellvorhaben entstehende Mehraufwendungen durch nachzuweisende Einsparungen auf Grund der in dem Modellvorhaben vorgesehenen Maßnahmen ausgeglichen werden. Einsparungen nach Satz 2 können, soweit sie die Mehraufwendungen überschreiten, auch an die an einem Modellvorhaben teilnehmenden Versicherten weitergeleitet werden. Satz 1 gilt mit der Maßgabe, dass von § 284 Abs. 1 Satz 4 nicht abgewichen werden darf.
(3a) Gegenstand von Modellvorhaben nach Absatz 1, in denen von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abgewichen wird, können insbesondere informationstechnische und organisatorische Verbesserungen der Datenverarbeitung, einschließlich der Erweiterungen der Befugnisse zur Verarbeitung von personenbezogenen Daten sein. Von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches zur Verarbeitung personenbezogener Daten darf nur mit schriftlicher oder elektronischer Einwilligung des Versicherten und nur in dem Umfang abgewichen werden, der erforderlich ist, um die Ziele des Modellvorhabens zu erreichen. Der Versicherte ist vor Erteilung der Einwilligung schriftlich oder elektronisch darüber zu unterrichten, inwieweit das Modellvorhaben von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abweicht und aus welchen Gründen diese Abweichungen erforderlich sind. Die Einwilligung des Versicherten hat sich auf Zweck, Inhalt, Art, Umfang und Dauer der Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten sowie die daran Beteiligten zu erstrecken.
(3b) Modellvorhaben nach Absatz 1 können vorsehen, dass Angehörige der im Pflegeberufegesetz, im Krankenpflegegesetz und im Altenpflegegesetz geregelten Berufe 1. die Verordnung von Verbandsmitteln und Pflegehilfsmitteln sowie 2. die inhaltliche Ausgestaltung der häuslichen Krankenpflege einschließlich deren Dauer vornehmen, soweit diese auf Grund ihrer Ausbildung qualifiziert sind und es sich bei der Tätigkeit nicht um selbständige Ausübung von Heilkunde handelt.
(3c) Modellvorhaben nach Absatz 1 können eine Übertragung der ärztlichen Tätigkeiten, bei denen es sich um selbstständige Ausübung von Heilkunde handelt und für die die Angehörigen des im Pflegeberufegesetz geregelten Berufs auf Grundlage einer Ausbildung nach § 14 des Pflegeberufegesetzes qualifiziert sind, auf diese vorsehen. Die Krankenkassen und ihre Verbände sollen entsprechende Vorhaben spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2020 vereinbaren oder durchführen. Der Gemeinsame Bundesausschuss legt in Richtlinien fest, bei welchen Tätigkeiten eine Übertragung von Heilkunde auf die Angehörigen des in Satz 1 genannten Berufs im Rahmen von Modellvorhaben erfolgen kann. Vor der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses ist der Bundesärztekammer sowie den maßgeblichen Verbänden der Pflegeberufe Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Stellungnahmen sind in die Entscheidungen einzubeziehen. Durch den Gemeinsamen Bundesausschuss nach den Sätzen 2 bis 4 festgelegte Richtlinien gelten für die Angehörigen des in Satz 1 geregelten Berufs fort.
(3d) Die Anwendung von Heilmitteln, die nach der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zur Behandlung krankheitsbedingter Schädigungen nur verordnungsfähig sind, wenn die Schädigungen auf Grund bestimmter Grunderkrankungen eintreten, kann auch bei anderen ursächlichen Grunderkrankungen Gegenstand von Modellvorhaben nach Absatz 2 sein.
Gegenstand von Modellvorhaben nach Absatz 2 können nur solche Leistungen sein, über deren Eignung als Leistung der Krankenversicherung der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 im Rahmen der Beschlüsse nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 oder im Rahmen der Beschlüsse nach § 137c Abs. 1 keine ablehnende Entscheidung getroffen hat. Fragen der biomedizinischen Forschung sowie Forschungen zur Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln und Medizinprodukten können nicht Gegenstand von Modellvorhaben sein.
Die Modellvorhaben sind im Regelfall auf längstens acht Jahre zu befristen. Verträge nach § 64 Abs. 1 sind den für die Vertragsparteien zuständigen Aufsichtsbehörden vorzulegen. Modellvorhaben nach Absatz 1, in denen von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abgewichen werden kann, sind auf längstens fünf Jahre zu befristen. Über Modellvorhaben nach Absatz 1, in denen von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abgewichen wird, sind der Bundesbeauftragte für den Datenschutz oder die Landesbeauftragten für den Datenschutz, soweit diese zuständig sind, rechtzeitig vor Beginn des Modellvorhabens zu unterrichten.
Modellvorhaben nach den Absätzen 1 und 2 können auch von den Kassenärztlichen Vereinigungen im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung mit den Krankenkassen oder ihren Verbänden vereinbart werden. Die Vorschriften dieses Abschnitts gelten entsprechend.
Was regelt dieser Paragraph?
§ 63 SGB V ermöglicht Krankenkassen und ihre Verbände, sogenannte Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der Versorgung durchzuführen oder zu vereinbaren. Ziel dieser Projekte ist, Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zu verbessern. Der Paragraph schafft dafür den rechtlichen Rahmen und ermöglicht Abweichungen von bestehenden gesetzlichen Vorgaben – allerdings unter strengen Voraussetzungen und Kontrollen.
Was sind Modellvorhaben?
Modellvorhaben dienen dazu, neue Wege bei der Erbringung, Organisation, Finanzierung und Vergütung von Gesundheitsleistungen zu erproben. Sie können z. B. Verbesserungen der Behandlung, Erprobung neuer Vergütungsmodelle oder Digitalisierungsvorhaben beinhalten.
Modellvorhaben [können] zur Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Versorgung […] durchgeführt oder nach § 64 vereinbart [werden].
Die Kassenärztlichen Vereinigungen können ebenfalls Modellvorhaben gemeinsam mit den Krankenkassen auf den Weg bringen.
Umfang und Gegenstand von Modellvorhaben
Es gibt zwei Hauptarten von Vorhaben:
- Nach Absatz 1: Modellvorhaben, die sich auf die Entwicklung neuer Verfahren, Organisationen, Finanzierung oder Vergütung bei der Leistungserbringung richten – und innerhalb der gesetzlichen Aufgaben der Krankenkassen bleiben.
- Nach Absatz 2: Modellvorhaben zu Leistungen, die nicht regulär von der Krankenkasse übernommen werden (z. B. bestimmte Vorsorgeleistungen oder innovative Behandlungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft).
Eine wichtige Einschränkung:
- Diese Vorhaben dürfen sich nur auf Leistungen beziehen, bei denen der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) nicht bereits eindeutig abgelehnt hat, sie als Kassenleistung aufzunehmen.
- Nicht zulässig sind Modellvorhaben zur Erforschung und Prüfung von Arzneimitteln oder Medizinprodukten (kein biomedizinisches Forschungslabor im Rahmen des § 63!).
Abweichungen von bestehenden Regelungen
Der Gesetzgeber gesteht für Modellvorhaben weitreichende Erprobungsspielräume zu:
Bei der Vereinbarung und Durchführung von Modellvorhaben […] kann von den Vorschriften des Vierten und des Zehnten Kapitels dieses Buches […] abgewichen werden […]
Solche Abweichungen sind aber an Bedingungen geknüpft, u.a.:
- Sie müssen erforderlich und zweckgebunden für das jeweilige Modell sein.
- Die Beitragssatzstabilität bleibt grundsätzlich gewahrt – Mehrkosten müssen durch nachweisbare Einsparungen ausgeglichen werden.
- Einsparungen dürfen an die Versicherten weitergegeben werden, sofern sie die Mehrkosten übersteigen.
Eine besondere Rolle spielt der Datenschutz (siehe auch Abs. 3a): Abweichungen vom Zehnten Kapitel (Datenschutz) sind nur nach schriftlicher oder elektronischer Einwilligung des Versicherten möglich – und diese müssen umfassend über Zwecke und Umfang informiert werden.
Spezielle Modellvorhaben – Berufliche und organisatorische Aspekte
Mehrere Absätze erlauben gezielte Neuerungen rund um den Einsatz von Pflege- und Gesundheitsfachberufen:
- Abs. 3b: Pflegefachpersonen können im Modell z.B. die Verordnung von Verbands- und Pflegehilfsmitteln sowie die Ausgestaltung der häuslichen Krankenpflege übernehmen – solange keine Heilkunde im rechtlichen Sinne ausgeübt wird.
- Abs. 3c: Es ist sogar möglich, heilkundliche Tätigkeiten (also ärztliche Aufgaben) auf Pflegeberufe zu übertragen, sofern die betreffenden Personen nach dem Pflegeberufegesetz entsprechend ausgebildet sind. Hierbei müssen Richtlinien des G-BA beachtet werden, und die ärztliche Standesvertretung („Bundesärztekammer“) wird beteiligt.
Voraussetzungen, Kontrolle und Dauer
Damit Modellvorhaben kein Dauerzustand werden und kontrollierbar bleiben, gibt es Fristen und Kontrollmechanismen:
- Grundsätzlich sind sie auf maximal 8 Jahre zu befristen. Werden datenschutzrechtliche Vorschriften berührt, maximal 5 Jahre.
- Sämtliche Verträge müssen der zuständigen Aufsichtsbehörde vorgelegt werden.
- Datenschutzrechtlich relevante Projekte müssen rechtzeitig dem Datenschutzbeauftragten angezeigt werden.
Anwendungsbeispiele und Bedeutung für die Berufspraxis
Modellvorhaben nach § 63 SGB V sind ein Motor für innovative Versorgungslösungen im Gesundheitswesen – von telemedizinischen Services, neuen Versorgungswegen bis zur besseren Einbindung von Pflegeberufen in die Versorgung.
Für Apotheken bedeuten sie: Neue Arzneimitteltherapien, Versorgungsformen und Kooperationen können unter definierten Bedingungen erprobt und – bei Erfolg – in die Regelversorgung überführt werden. Gleichzeitig gilt es, bei Modellprojekten die rechtlichen Rahmenbedingungen und Datenschutz-Anforderungen genau zu beachten.
Modellvorhaben können neue Wege im Medikationsmanagement, der Zusammenarbeit mit Pflege und Ärzten oder bei der Versorgung von besonderen Patientengruppen schaffen. Wichtig ist, dass solche Projekte zeitlich befristet, kontrolliert und immer transparent sind – und die Einhaltung von Datenschutz und Kassenrecht im Blick behalten wird.
Zusammenfassung
§ 63 SGB V ermöglicht gezielte innovative Projekte (Modellvorhaben) im Gesundheitswesen – als befristete Ausnahme vom routinemäßigen Kassenrecht, unter klaren Bedingungen und mit Schutzmechanismen, insbesondere zur Qualität, Wirtschaftlichkeit, Datenschutz und Patientensicherheit. Der Paragraph ist die Grundlage, unter der Neues ausprobiert und bei Erfolg auf das gesamte Gesundheitssystem ausgeweitet werden kann.
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