Erweiterte Medikationsberatung bei Polymedikation

Grundlagen und Zielsetzung

Die erweiterte Medikationsberatung bei Polymedikation ist ein strukturiertes pharmazeutisches Dienstleistungsangebot, das sich speziell an Patientinnen und Patienten richtet, die dauerhaft fünf oder mehr systemisch wirkende Arzneimittel verwenden. Ziel ist es, die Sicherheit und Effektivität der Arzneimitteltherapie zu erhöhen, arzneimittelbezogene Probleme frühzeitig zu erkennen und in enger Abstimmung mit dem Patienten und bei Bedarf mit den behandelnden Ärzten zu lösen.

Diese Dienstleistung geht deutlich über die übliche Information bei der Arzneimittelabgabe hinaus. Sie basiert auf wissenschaftlich belegten Leitlinien, festen Abläufen und einer qualitätsgesicherten Vorgehensweise, die in der Apothekenbetriebsordnung und den Regelungen der GKV-Versorgung verbindlich verankert sind.

Anlässe für eine erweiterte Medikationsberatung

Solch eine Beratung ist vor allem sinnvoll bei Patienten

  • mit Polymedikation (≥5 Arzneistoffe),
  • mehreren chronischen Erkrankungen,
  • häufigen Medikationsänderungen (z.B. nach Klinikaufenthalt),
  • Verdacht auf Nebenwirkungen oder unzureichende Wirkung,
  • Unsicherheiten oder Problemen mit der Einnahme.

Auch Bewohner von Alten- und Pflegeheimen sowie Patienten in häuslicher Versorgung profitieren von dieser Dienstleistung.

Organisatorische und rechtliche Rahmenbedingungen

Vor Durchführung der Beratung ist immer die informierte Einwilligung des Patienten zur Erhebung und Nutzung gesundheitsbezogener Daten notwendig. Für GKV-Versicherte können die Kosten abgerechnet werden, andernfalls muss eine schriftliche Vereinbarung über eine Selbstzahlerleistung getroffen werden.

Im Apothekenteam übernimmt der Apotheker die verantwortliche Analyse und Beratung; pharmazeutisches Personal kann unterstützende Tätigkeiten (z.B. Dokumentation, Terminvereinbarung) übernehmen.

Ein ungestörter Beratungsrahmen (z.B. Beratungsraum) ist zwingend, ebenso wie die Wahrung des Datenschutzes.

Ablauf der erweiterten Medikationsberatung

Der Prozess gliedert sich in fünf zentrale Phasen:

1. Vorbereitung und Datensammlung

Der Patient bringt folgende Unterlagen und Präparate mit:

  • Alle regelmäßig, bei Bedarf oder aktuell verwendeten Arzneimittel (inkl. OTC-Präparate, Nahrungsergänzungsmittel, pflanzliche Arzneimittel)
  • Vorhandene Medikationspläne und ärztliche Unterlagen
  • Angaben über Medizinprodukte, die für die Therapie relevant sind (zum Beispiel Inhalatoren, Insulinpens)
  • Angaben zur Selbstmedikation und zu nicht aus der Apotheke bezogenen Mitteln

Zusätzlich werden Daten aus der Apothekendokumentation, (E-)Rezepte, Arztbriefe und - falls vorhanden - Laborwerte herangezogen. Die Vollständigkeit der Daten steht hierbei im Vordergrund, um Fehleinschätzungen zu vermeiden.

2. Strukturiertes Patientengespräch

Das Patientengespräch folgt einem klaren Leitfaden. Dabei werden insbesondere folgende Themen beleuchtet:

  • Welche Arzneimittel werden aktuell tatsächlich eingenommen? (Brown Bag Review)
  • Welche Präparate sind ärztlich verordnet, welche im Rahmen der Selbstmedikation genutzt?
  • Was sind Dosierung, Einnahmezeiten und Anwendungsgründe jedes einzelnen Arzneistoffs?
  • Wie erfolgt die Anwendung und Aufbewahrung?
  • Gibt es Schwierigkeiten, Nebenwirkungen, Unsicherheiten oder Adhärenzprobleme?
  • Wie ist die Therapietreue einzuschätzen (z.B. Häufigkeit vergessener Einnahmen)?
  • Gibt es Hinweise auf spezielle Probleme wie Schluckbeschwerden, Probleme mit der Teilbarkeit oder Körpergewichtsschwankungen?

Das Gespräch fördert nicht nur die Datenqualität, sondern gibt oft ersten Aufschluss über nicht dokumentierte Risiken oder Sorgen des Patienten.

3. Systematische Prüfung und Bewertung

Die eigentliche Medikationsanalyse erfolgt systemgestützt mithilfe von Arzneimitteldatenbanken, aktuellen Leitlinien sowie der pharmazeutischen Erfahrung.

Geprüft werden insbesondere:

  • Interaktionen zwischen verordneten und selbst gekauften Arzneimitteln, inkl. Nahrungsergänzungsmitteln und typischer „Problemstoffe“ wie Johanniskraut, Grapefruitsaft etc.
  • Pseudo-Doppelmedikation (z.B. zwei Präparate mit gleichem Wirkstoff, unterschiedliche Handelsnamen)
  • Doppelmedikation (Art und Grund)
  • Falsche, zu niedrige oder zu hohe Dosierung oder Dosierschema
  • Ungeeignete Darreichungsform (z.B. große Tabletten bei Schluckstörungen)
  • Anwendungsschwierigkeiten (z.B. Nutzung von Inhalatoren, Insulinpen-Technik)
  • Überrepräsentierte Nebenwirkungen und klassische Warnsignale (Stürze, Blutungen, Sedierung)
  • Nicht mehr indizierte Arzneimittel (Deprescribing-Potenzial)
  • Non-Adhärenz, unklare Einnahmemuster, ungeeignete Lagerung
TipTypische Interaktionen in der Polymedikation
  • NSAR + Antihypertensiva: Risiko für Blutdruckanstieg und Nierenschäden
  • ACE-Hemmer + Kaliumsparende Diuretika: Hyperkaliämie-Gefahr
  • Statine + bestimmte Antibiotika (z.B. Makrolide): Risiko für Rhabdomyolyse Basis: Hemmung oder Induktion von Enzymen (v.a. CYP450-System), Additionswirkung auf Nebenwirkungen oder gegenteilige Effekte.

Die medizinische Bewertung bleibt dabei stets Aufgabe des Arztes. Für die Apotheke zentrale Aufgabe ist das Erkennen, Bewerten und die Kommunikation arzneimittelbezogener Probleme.

4. Planung und Umsetzung von Maßnahmen

Priorisiere erkannte Probleme nach Gefährdungspotenzial und Dringlichkeit. Nicht jedes theoretische Problem verlangt eine umgehende Änderung!

Konkrete Maßnahmen können sein:

  • Anpassung der Einnahmemodalitäten (z.B. Einnahmezeitpunkt, Einnahme zu/um/davor)
  • Reduktion doppelter oder ungeeigneter Selbstmedikation
  • Technikhilfe bei der Anwendung (z.B. Tablettenteiler, Inhalationstraining)
  • Patientenaufklärung über korrekte Anwendung, Nebenwirkungen und Verhalten bei vergessenen Einnahmen
  • Bei gravierenden Problemen: Kontaktaufnahme zum behandelnden Arzt mit Einverständnis des Patienten, inklusive kurzer Fallbeschreibung, Problemerläuterung und dokumentiertem Lösungsvorschlag

5. Abschluss, Medikationsplan und Nachsorge

  • Verständliche Besprechung aller identifizierten Probleme und vereinbarten Maßnahmen mit dem Patienten
  • Erstellung oder Aktualisierung eines Medikationsplans mit allen relevanten Details (Arzneistoff, Handelsname, Stärke, Darreichungsform, Dosierung, Einnahmehinweise, ggf. Indikation)
  • Übergabe von Informationsmaterialien
  • Vereinbarung von Kontrollterminen, falls Folgeprobleme oder größere Umstellungen anstehen
  • Lückenlose Dokumentation des gesamten Prozesses (mindestens für drei Jahre)

Hinweise für das Patientengespräch

Grundlegende Fragen, die du immer einbeziehen solltest:

  • „Welche Arzneimittel nehmen Sie aktuell regelmäßig und bei Bedarf ein?“
  • „Haben Sie sich selbst etwas gekauft oder nutzen Sie pflanzliche Präparate/Nahrungsergänzungsmittel?“
  • „Gab es in letzter Zeit Veränderungen an der Medikation, etwa nach einem Klinikaufenthalt?“
  • „Gibt es Einnahmeschwierigkeiten oder Nebenwirkungen, die Sie bemerkt haben?“
  • „Wie bewahren Sie Ihre Arzneimittel auf?“
  • „Kommt es vor, dass Sie Einnahmen vergessen, und wenn ja, wann besonders häufig?“

Team und Organisation

Das gesamte Apothekenteam muss über den Nutzen und die Abläufe der erweiterten Medikationsberatung informiert und geschult sein. Nicht-approbiertes Personal kann vorbereitende Tätigkeiten (z.B. Terminvereinbarung, Aufnahme von Stammdaten) übernehmen. Die Analyse, Bewertung und das Patienten-Empfehlungsgespräch sind und bleiben dem Apotheker vorbehalten.

Für effiziente Ablaufgestaltung eignen sich:

  • Standardisierte Gesprächsleitfäden und Checklisten
  • Klare Kommunikationswege mit Arztpraxen für Rückfragen
  • Ressourcen wie aktuelle Arzneimitteldatenbanken, Fachliteratur und computergestützte Hilfsmittel

Typische Herausforderungen und Lösungen

Viele Probleme der Polymedikation lassen sich durch klare Kommunikation, gezielte Nachfragen und patientenindividuelle Lösungen beheben. Häufigste Hürden im Alltag:

  • Fehlende Daten: Nachfordern, Geduld und strukturierte Erhebung (ggf. erneuter Termin)
  • Non-Adhärenz: Verständnis fördern, Einnahmevereinfachung anbieten, Motivierendes Beratungsgespräch
  • Komplexe Medikationspläne: Vereinfachung durch Absprache mit Arzt und gezielte Hilfsmittel

Zusammenfassung

  • Die erweiterte Medikationsberatung bei Polymedikation ist ein zentrales Element zur Steigerung der Arzneimitteltherapiesicherheit, Minimierung von Risiken und Förderung der Therapietreue.
  • Sie umfasst das strukturierte Erfassen aller Arzneimittel und relevanter Zusatzstoffe, ein leitfadengestütztes Patientengespräch, die systematische Analyse auf arzneimittelbezogene Probleme und das patientenindividuelle Maßnahmenpaket in Zusammenarbeit mit Ärzten und Pflege.
  • Die eigenständige pharmazeutische Beurteilung, Dokumentation und verständliche Ergebnisvermittlung an den Patienten sind unverzichtbar.
  • Teamorganisation, Datenschutz und fester Ablaufrhythmus sichern die hohe Qualität dieser Dienstleistung in der öffentlichen Apotheke.

Eine strukturierte, verständliche und empathische Kommunikation ist das wichtigste Werkzeug, um nachhaltige Verbesserungen bei der Arzneimitteltherapie von Patienten mit Polymedikation zu erzielen.

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