Geriatrie

Hintergrund und Bedeutung

Geriatrische Patienten zählen zu den anspruchsvollsten Patientengruppen in der Apotheke. Nicht nur das fortgeschrittene Lebensalter, sondern vor allem die häufige Multimorbidität – also das gleichzeitige Auftreten mehrerer chronischer Erkrankungen – stellt besondere Anforderungen an die pharmazeutische Betreuung. Daraus resultiert oftmals eine Polypharmazie: Viele ältere Menschen nehmen fünf oder mehr Arzneimittel regelmäßig ein. Dies erhöht das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Wechselwirkungen, Therapiefehler und Probleme bei der Arzneimittelanwendung erheblich.

Die Therapieziele in der Geriatrie unterscheiden sich häufig von denen jüngerer Patientengruppen: Es stehen nicht immer kurative Ansätze im Vordergrund, sondern häufig Erhalt der Selbstständigkeit, Lebensqualität, Symptomkontrolle und die Prävention von Komplikationen. Ein individualisiertes, patientenzentriertes Vorgehen ist unverzichtbar.

Physiologische Veränderungen im Alter – Auswirkungen auf die Arzneimitteltherapie

Im Alter verändern sich zahlreiche Körperfunktionen, was erhebliche Folgen für die Pharmakokinetik und -dynamik von Arzneistoffen hat:

Resorption:
Verzögerte Magenentleerung, verminderte Darmmotilität und veränderte pH-Werte können die Aufnahme von Arzneistoffen beeinflussen. Teilweise wird die Resorption unvorhersehbarer.

Verteilung:
Die Zusammensetzung des Körpers verschiebt sich: Das Verhältnis von fettfreier Masse, Körperwasser und Körperfett verändert sich. Lipophile Arzneistoffe (wie Diazepam) lagern sich verstärkt im Fettgewebe ab und weisen dadurch eine verlängerte Halbwertszeit auf.

Metabolismus:
Die Aktivität der Leberenzyme und die Leberdurchblutung nehmen ab. Dies verlängert die Verweildauer vieler Arzneistoffe im Körper (z.B. Metoprolol).

Elimination (Niere):
Die glomeruläre Filtrationsrate nimmt im Alter fast immer ab. Achtung: Serumkreatinin allein spiegelt die Nierenfunktion oft nicht ausreichend wider, da die Muskelmasse – und damit die Kreatininbildung – abnimmt.

TipPraktischer Tipp: Nierenfunktion schätzen

Berechne bei älteren Patienten immer die Kreatinin-Clearance (nach Cockcroft-Gault), um die Nierenfunktion einzuschätzen und Dosisanpassungen korrekt vorzunehmen!

Pharmakodynamik:
Die Empfindlichkeit gegenüber zentral wirksamen Arzneimitteln (wie Benzodiazepine, Opioide, Antidepressiva, Antipsychotika) ist altersbedingt oft erhöht. Das Risiko für Sedierung, Stürze und Verwirrtheit steigt.

Multimorbidität und Polypharmazie – Herausforderungen für die Apotheke

Gleichzeitige Therapien verschiedener Erkrankungen führen häufig zu Polypharmazie – das bringt komplexe Interaktionen, Doppelverordnungen und eine hohe Gefahr für arzneimittelbezogene Probleme mit sich.

Wichtige Aufgaben in der Apotheke:

  • Überblick über die gesamte Arzneimitteltherapie gewinnen
  • Potenziell ungeeignete Arzneistoffe identifizieren (z.B. mit Hilfe von PRISCUS- oder Beers-Kriterien)
  • Auf Dosierungen und Therapieziele bei eingeschränkter Organfunktion achten
  • Interaktionen erkennen und das Risiko bewerten
  • Patienten und ggf. Angehörige zur korrekten Anwendung beraten

Typische arzneimittelbezogene Probleme

  • Unter-, Über- oder Fehlversorgung durch inadäquate Arzneimittelauswahl oder Dosis
  • Klinisch relevante Arzneimittelinteraktionen (z.B. mit Antikoagulanzien wie Warfarin)
  • Häufige Nebenwirkungen (z.B. Stürze durch Antihypertensiva, Delir bei Anticholinergika)
  • Probleme bei der Anwendung (Schluckstörungen, Vergessen, eingeschränkte Feinmotorik)

Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) – Maßnahmen in der Praxis

Ein strukturierter Prozess ist für eine sichere Arzneimittelversorgung unerlässlich:

  1. Medikationsanalyse durchführen:
    Überblick über alle verordneten und selbst eingenommenen Präparate, inkl. Phytopharmaka und Nahrungsergänzungsmittel.
  2. Indikationsprüfung:
    Hat jedes Arzneimittel eine aktuelle, sinnvolle Indikation? Können ggf. Arzneistoffe abgesetzt (“Deprescribing”) werden?
  3. Dosisanpassung:
    Berücksichtige Organfunktion (Niere, Leber), Körpergewicht und mögliche Über- oder Unterdosierungen.
  4. Interaktionen bewerten:
    Vor allem bei typischen Problemkombinationen aktiv nachfragen und bei schwerwiegenden Risiken Rücksprache mit dem behandelnden Arzt halten.
  5. Beratung und Anwendungshilfen:
    Erkläre Einnahmezeitpunkte, Anwendungshinweise und setze – falls nötig – Dosierhilfen/Dosette ein. Passe die Darreichungsform ggf. an Schluck- oder motorische Störungen an.
  6. Therapieüberwachung:
    Symptome, Nebenwirkungen und Verhaltensänderungen erfragen (z.B. Warnzeichen für Delir).

Patientenzentrierte Beratung

Im Gespräch mit geriatrischen Patienten und ihren Angehörigen ist besonders wichtig:

  • Verständliche Sprache, kurze Sätze, Nachfragen zum Verständnis
  • Angepasste und schriftlich fixierte Einnahmepläne
  • Erkennen von Einschränkungen bei Sehkraft, Gehör oder Gedächtnis
  • Motivation und Unterstützung zur regelmäßigen Einnahme (Adhärenz)
  • Zusammenarbeit mit betreuenden Personen fördern
TipMögliche Fragen im Beratungsgespräch
  • Haben Sie alle Arzneimittel zu Hause dabei?
  • Nehmen Sie noch andere Produkte, wie z.B. pflanzliche Mittel oder Nahrungsergänzungen?
  • Gab es jüngst neue Symptome (z.B. Verwirrtheit, Stürze, Schwäche)?
  • Bereitet die Einnahme oder Handhabung eines Produkts Schwierigkeiten?
  • Gibt es Probleme beim Essen, Trinken oder Schlucken?

Besondere Risiken und wichtige Wirkstoffgruppen

Wirkstoffgruppe Typisches Risiko im Alter Beispiel-Arzneistoff Besonderheit/Hinweis
Benzodiazepine Gesteigertes Sturzrisiko, Delir Diazepam, Lorazepam Besser vermeiden, niedrige Dosierung, kurze Anwendung
Anticholinergika Kognitive Einschränkung, Mundtrockenheit Amitriptylin, Oxybutynin Alternative suchen, besonders bei Demenz meiden
Antipsychotika Extrapyramidalstörungen, erhöhte Mortalität Haloperidol, Quetiapin Nur bei zwingender Indikation
Opioide Atemdepression, Stürze, Verwirrtheit Morphin, Fentanyl An niedrigste wirksame Dosis anpassen
NSAR GI-Blutung, Nierenfunktion, kardiovaskuläres Risiko Ibuprofen, Diclofenac Möglichst kurz, Alternativen prüfen
Antikoagulanzien (VKA/DOAK) Blutungsgefahr, Interaktionen Warfarin, Apixaban Dosis sorgfältig überwachen, Interaktionen ausschließen
Digitalis Toxizität bei eingeschr. Nierenfunktion Digoxin Dosis sehr niedrig, Spiegelkontrolle nötig

Zusammenarbeit und Kommunikation

Die Betreuung geriatrischer Patienten gelingt besonders gut, wenn verschiedene Berufsgruppen eng kooperieren:

  • Bei Unsicherheiten (z.B. auffällige Nebenwirkungen, Dose-Changes, Interaktionen) immer Rücksprache mit Arzt oder Pflegepersonal.
  • Regelmäßiger Austausch bei Veränderungen der Medikation, Umstellungen oder Krankenhausaufenthalten.
  • Angehörige und Pflegekräfte aktiv in die Beratung und Therapiesicherung einbeziehen.

Grenzen der Aktivitäten in der Apotheke

Einige Probleme können nur durch ärztliche Abklärung gelöst werden (z.B. unklare Diagnosen, Therapieversagen, Verdacht auf schwerwiegende Nebenwirkungen oder Notwendigkeit einer Neueinstellung). Bei Anzeichen einer akuten Verschlechterung – wie z.B. plötzlicher Verwirrtheit, Stürzen oder Symptomen einer schweren Infektion – unbedingt zur ärztlichen Abklärung raten.

Zusammenfassung

  • Geriatrische Patienten profitieren von einem strukturierten, individuellen Ansatz bei der Arzneimitteltherapie.
  • Multimorbidität, Polypharmazie und altersbedingte Veränderungen beeinflussen die Pharmakotherapie maßgeblich.
  • Medikationsanalyse, Indikationskritik, Dosisanpassung, Interaktionsbewertung und patientengerechte Beratung stehen im Zentrum der pharmazeutischen Betreuung.
  • Besonders auf typische Risikowirkstoffe und potenziell inadäquate Medikation achten (z.B. gemäß PRISCUS-Liste).
  • Die Förderung der Adhärenz sowie die Berücksichtigung kognitiver, sensorischer und motorischer Einschränkungen sind essenziell.
  • Interprofessionelle Zusammenarbeit und klare Kommunikation sind für die Sicherheit und Effektivität der Arzneimitteltherapie im Alter entscheidend.

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