Gefahren des Dauergebrauchs und Missbrauchs
Grundlagen: Dauergebrauch, Fehlgebrauch, Missbrauch und Abhängigkeit
Arzneimittel erfüllen ihre Aufgabe nur bei korrekter Anwendung. Werden sie zu lange, zu häufig oder mit falscher Intention angewendet, besteht die Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden. Es lohnt sich, zwischen Fehlgebrauch, Missbrauch und Abhängigkeit zu unterscheiden:
- Fehlgebrauch: Das Arzneimittel wird unabsichtlich falsch verwendet, etwa bei einer zu langen Einnahme oder falscher Dosierung.
- Missbrauch: Die Einnahme erfolgt absichtlich außerhalb der zugelassenen Empfehlungen, um z. B. psychotrope Effekte zu erzielen.
- Abhängigkeit: Hier entwickelt sich ein krankhafter Drang zur Einnahme, teils verbunden mit Entzugssymptomen, Kontrollverlust oder Vernachlässigung alltäglicher Pflichten.
In aktuellen Konzepten werden diese Muster oft unter dem Oberbegriff der Substanzgebrauchsstörung geführt – auch Arzneimittel können davon betroffen sein.
Risiken und Folgen von Dauergebrauch und Missbrauch
Der andauernde oder unsachgemäße Einsatz bestimmter Arzneimittel kann folgende Konsequenzen haben:
- Entwicklung von Toleranz (Zunahme der benötigten Dosis)
- Auftreten von Entzugserscheinungen beim Absetzen
- Psychische und/oder körperliche Folgeschäden
- Interaktionen mit anderen Arzneimitteln oder Alkohol
- Chronische Erkrankungen als Folge (z. B. medikamenteninduzierter Kopfschmerz)
Nicht nur klassische Suchtstoffe wie Opioide oder Benzodiazepine, sondern auch rezeptfreie Präparate (z. B. Laxanzien, Nasensprays, Analgetika) können bei Dauergebrauch erhebliche Risiken bergen.
Typische Warnsignale im Apothekenalltag
- Häufige oder auffällige Nachfragen
- Wunsch nach ungewöhnlich großen Packungen
- Bericht über angebliche “Wirkungslosigkeit” trotz regelmäßiger Einnahme
- Bitten um immer neue Rezepte/Verordnungen, oft von wechselnden Ärzt:innen
- Konfliktverhalten, wenn das Arzneimittel nicht abgegeben wird
Substanzspezifische Besonderheiten
Benzodiazepine & benzodiazepinähnliche Hypnotika
Wirkmechanismus: Verstärkung der GABAergen Hemmung im ZNS – dadurch sedierend, schlaffördernd, angstlösend.
Risiken:
- Abhängigkeitsentwicklung bereits bei therapeutischer Dosis
- Tagesmüdigkeit, Sturzgefahr (v. a. ältere Menschen)
- Kognitive Einbußen bei Langzeiteinnahme
- Entzugssymptome bei abruptem Absetzen
Praxis-Tipp: Immer kurzzeitig einsetzen, ärztlich angeleitet ausschleichen und keine eigenmächtige Dosisänderung oder Weitergabe.
Opioide
Wirkmechanismus: Agonismus an µ-Opioidrezeptoren – starke Schmerzlinderung, aber auch Euphorisierungs- und Abhängigkeitspotenzial.
Risiken:
- Rasche Toleranzsteigerung und Dosiserhöhung durch Patienten
- Lebensbedrohliche Atemdepression bei Überdosierung
- Manipulationsversuche bei bestimmten Darreichungsformen
Praxis-Tipp: Sorgfältige Dokumentation, keine Mehrfachabgabe ohne sorgfältige Überprüfung. Bei Auffälligkeiten (z. B. angeblich verlorenes Rezept, „fehlende“ Tabletten) klärend das Gespräch suchen.
Sedierende H1-Antihistaminika (z. B. Diphenhydramin)
Wirkmechanismus: Blockade von Histamin-H1-Rezeptoren im ZNS – schlaffördernde Wirkung.
Risiken:
- Tagesmüdigkeit, anticholinerge Effekte
- Rebound-Schlafstörungen bei plötzlichem Absetzen
- Bei Langzeitgebrauch Verminderung der Erholsamkeit des Schlafs
Nicht-opioide Analgetika (z. B. Paracetamol, Ibuprofen)
Machen nicht klassisch abhängig, aber Dauergebrauch (v. a. zur Kopfschmerztherapie) kann chronischen Kopfschmerz (“medikamenteninduzierter Kopfschmerz”) verursachen. Dazu drohen Magen-Darm-Blutungen sowie Leber- und Nierenschäden.
Zentrale Antitussiva (Dextromethorphan) und Loperamid
Dextromethorphan: In hoher Dosierung oder bestimmten Kombinationen psychoaktiv, Risiko für Lebensgefahr (Serotonin-Syndrom, Halluzinationen).
Loperamid: Peripherer Opioidagonist; bei massivem Missbrauch Wirkung auf das ZNS und lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen möglich.
Stimulanzien (Methylphenidat, Modafinil, indirekte Sympathomimetika)
- Gefahr der Zweckentfremdung zur Leistungssteigerung oder Wachbleiben
- Unerwünschte Wirkungen: Schlaflosigkeit, Blutdruckanstieg, möglicherweise psychotische Symptome
- Besonders kritisch bei nicht-oraler Anwendung (z. B. nasal, intravenös)
Laxanzien und Diuretika
Risiken bei Dauergebrauch und Missbrauch:
- Chronische Diarrhö, Elektrolytentgleisungen (v. a. Hypokaliämie)
- Flüssigkeitsverlust mit Herz-Kreislauf-Belastung
- Teufelskreis aus Darmlähmung und erneuter Einnahme
- Besonders bei selbst initiierten “Reinigungs-” oder Diätmaßnahmen gefährlich
Vasokonstriktive Nasensprays
Wirkmechanismus: α-Sympathomimetika, Abschwellung der Nasenschleimhaut.
Risiken:
- Rebound-Effekt (“Privinismus”) mit chronischer, medikamentös bedingter Nasenverstopfung
- Schleimhautschäden bei Langzeitgebrauch
Phytopharmaka, alkoholhaltige Lösungen, flüchtige Lösungsmittel
Missbrauch – häufig unterschätzt, aber gerade bei Jugendlichen und vulnerablen Gruppen beachtenswert. Z. B. bei hohen Alkoholmengen oder Inhalation von Lösungsmitteln besteht ein akutes Intoxikationsrisiko.
Beratung und Handeln in der Apotheke
Im Kontakt mit Patient:innen kommt es auf ein sicheres, ruhiges und nicht moralisierendes Gesprächsklima an. Hilfreiche Ansätze sind:
- Anlass, Dauer und Dosierung gezielt erfragen
- Hinweise auf Dosissteigerungen, Wirkungslosigkeit oder Entzugssymptome beachten
- Nach kombinierten Konsummustern (Alkohol, weitere Substanzen) fragen
- Eigeninitiativen (Ernährungsumstellungen, Selbstmedikation) erheben
Bei Verdacht auf Missbrauch, Abhängigkeit oder unsachgemäßen Dauergebrauch:
- Aufklären über Risiken und Alternativen
- Arztkontakt nahelegen, ggf. begleitend unterstützen (z. B. beim Entzug)
- Abgabeverweigerung sachlich erklären und ggf. dokumentieren
- Den Personenkreis im Apothekenteam sensibilisieren, Meldewege intern klären
- Begrüße ruhig und wertschätzend.
- Frage offen nach dem Anlass der Arzneimitteleinnahme.
- Kläre Dosierung, Einnahmedauer und bisherige Erfahrungen.
- Erfrage gezielt nach weiteren eingenommenen Arzneimitteln, Alkohol, anderen Substanzen.
- Sprich Nebenwirkungen, Dosissteigerungen oder Absetzversuche an.
- Informiere über Risiken bei bestimmtem Gebrauch und biete sinnvolle Alternativen/Unterstützung an.
Typische Arzneistoffgruppen mit Missbrauchs- oder Abhängigkeitspotenzial
| Arzneistoffgruppe | Typische Beispiele | Hauptgefahr bei Dauergebrauch/Missbrauch |
|---|---|---|
| Benzodiazepine, Z-Substanzen | Diazepam, Zolpidem | Abhängigkeit, Entzug, kognitive Defizite |
| Opioide | Fentanyl, Tilidin | Sucht, Atemdepression, Überdosierung |
| Zentrale Antitussiva | Dextromethorphan | Psychotrope Wirkungen, Intoxikation |
| Loperamid | Loperamid | Herzrhythmusstörungen, zentrale Effekte |
| Sedierende Antihistaminika | Diphenhydramin | Tagesmüdigkeit, anticholinerge Effekte |
| Nicht-opioide Analgetika | Ibuprofen | Dauerkopfschmerz, Organschäden |
| Laxanzien | Bisacodyl | Elektrolytverlust, Darmträgheit |
| Diuretika | Furosemid | Dehydratation, Elektrolytstörungen |
| Nasensprays (α-Sympathomimetika) | Xylometazolin | Rebound-Effekt, Schleimhautschäden |
| Stimulanzien, Sympathomimetika | Methylphenidat | Missbrauch zur Leistungssteigerung |
Zusammenfassung
- Sowohl rezeptpflichtige als auch frei verkäufliche Arzneimittel bergen bei unsachgemäßem Dauergebrauch oder Missbrauch erhebliche Risiken für Gesundheit und Lebensqualität.
- Wesentliche Warnzeichen für kritische Konsummuster sind häufige Nachfrage, ungewöhnlich hoher Bedarf, auffällige Beschaffungsmuster und gezielte Umgehungen von Abgabevorschriften.
- Eine gezielte, offene und empathische Beratung, kombiniert mit klaren internen Maßnahmen (Dokumentation, ggf. Meldung), schützt Patient:innen und hebt die pharmazeutische Verantwortung hervor.
- Bei Verdachtsfällen lohnt die Zusammenarbeit mit Ärzt:innen und gegebenenfalls spezialisierten Beratungsstellen, um den Betroffenen frühzeitig Hilfe zukommen zu lassen und Schäden abzuwenden.
Feedback
Melde Fehler oder Verbesserungsvorschläge zur aktuellen Seite über dieses Formular ❤️. Als Dankeschön verlosen wir nach dem 1. Staatsexamen 3x 50 € unter allen Teilnehmenden 💰. Jedes konstruktive Feedback erhöht deine Gewinnchancen. Es gelten unsere Teilnahmebedingungen.
✓ Vielen Dank! Dein Feedback wurde erfolgreich gesendet.