Adipositas
Hintergrund und Bedeutung
Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die durch ein Übermaß an Körperfett gekennzeichnet ist. Die Ursachen sind vielschichtig und umfassen genetische, biologische, psychosoziale und umweltbedingte Faktoren. Neben dem eigentlichen Übergewicht rücken zunehmend die Folgeerkrankungen und die langfristige Gewichtsstabilisierung in den Fokus. Für die pharmazeutische Betreuung ist es wichtig, die Person nicht auf das Körpergewicht zu reduzieren und in einer respektvollen, unterstützenden Haltung zu beraten.
Adipositas fördert zahlreiche Begleiterkrankungen, insbesondere Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Leberverfettung, Schlafapnoe und Arthrose. Die pharmazeutische Betreuung zielt darauf ab, das Risiko und den Verlauf dieser Erkrankungen günstig zu beeinflussen.
Ersteinschätzung und Zielklärung in der Apotheke
Der Einstieg in die Beratung sollte offen und wertschätzend erfolgen – nicht jeder möchte zu Gewicht oder Lebensstil beraten werden. Frage zunächst, ob Interesse an einer Beratung besteht. In einem strukturierten Erstgespräch stehen folgende Punkte im Mittelpunkt:
- Gewicht, Größe, BMI (Body Mass Index): Ermittlung und Verlauf (z. B. Gewichtsveränderungen in den letzten Monaten).
- Taillenumfang: Gibt Hinweise auf viszerales, also stoffwechselaktives Bauchfett mit hohem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
- Individuelle Ziele: Realistische Vorgaben sind entscheidend – schon eine moderate Gewichtsreduktion von 5 bis 10 % verbessert oft wichtige gesundheitliche Parameter.
- Begleiterkrankungen und aktuelle Arzneimitteltherapie
- Psychosoziale Belastungen und Motivation
Frage gezielt nach bestehenden Risikofaktoren, Folgeerkrankungen und nach Arzneimitteln, die das Gewicht beeinflussen können.
Arzneimittel und deren Einfluss auf das Gewicht
Manche Arzneistoffe fördern eine unerwünschte Gewichtszunahme. Hier ist eine gezielte Anamnese notwendig:
Wichtige Arzneimittelgruppen, die das Gewicht beeinflussen können:
| Arzneistoffgruppe | Beispielwirkstoff | Gewichtseffekt | Hinweis im Beratungsgespräch |
|---|---|---|---|
| Antidepressiva | Mirtazapin | häufig ↑ | andere Klasse erwägen, Arztkontakt empfehlenswert |
| Antiepileptika | Valproinsäure | häufig ↑ | Nutzen-Risiko-Bewertung; ggf. Alternativen checken |
| Glukokortikoide | Prednisolon | oft ↑ | Dosisoptimierung, nicht abrupt absetzen |
| Antidiabetika (Insulin, Sulfonylharnstoffe) | Insulin | häufig ↑ | Dosis, Präparate ggf. anpassen, Alternativen empfehlen |
| Betablocker | Metoprolol | leicht ↑ | bei Bedarf Rücksprache mit Arzt* |
*immer in Zusammenarbeit mit der behandelnden Ärztin/dem behandelnden Arzt
Hier ist es wichtig, nicht eigenmächtig Änderungen vorzunehmen, sondern ggf. ärztlichen Rat zu vermitteln.
Grundbausteine der Therapie: Lebensstilintervention
Zentral ist eine individuell angepasste Lebensstiländerung mit den Säulen Ernährung, Bewegung und psychologischer/Verhaltensunterstützung. Arzneimittel können diese Basis nur ergänzen – ersetzen sie jedoch niemals.
Im Beratungsgespräch sollte auch auf realistische Ziele, Rückfallsituationen und nachhaltige Strategien zur Gewichtsstabilisierung eingegangen werden. Motiviere zu regelmäßiger Eigenkontrolle (z. B. Gewicht, Bewegungstagebuch).
Pharmakotherapie: Indikation, Auswahl, Überwachung
Arzneimittel zur Behandlung der Adipositas kommen nur bei bestimmten Voraussetzungen zum Einsatz:
- BMI ≥ 30 kg/m² oder ≥ 27 kg/m² mit Folgeerkrankungen
- Lebensstilmodifikation allein reicht nicht aus oder hat nicht zu ausreichender/stabiler Verbesserung geführt
Zwei Wirkmechanismen sind derzeit vorrangig relevant. Die Auswahl des Wirkstoffs richtet sich auch nach Begleiterkrankungen, Alter und Komorbidität.
Lipasehemmer – Hemmung der Fettresorption
Wirkmechanismus: Hemmen die pankreatische Lipase im Darm. Dadurch werden Nahrungsfette nicht absorbiert, sondern mit dem Stuhl ausgeschieden.
Beispiel: Orlistat
Typische Beratungshinweise:
- Fettarme Mahlzeiten verbessern die Verträglichkeit (weniger Durchfälle, Fettstühle).
- Häufige Nebenwirkungen: Steatorrhoe, Stuhldrang, Bauchschmerzen.
- Gleichzeitige Aufnahme fettlöslicher Vitamine (A, D, E, K) kann gestört sein; ggf. zwischenzeitlich supplementieren.
::: .callout-tip ## Praxis-Hinweis zu Orlistat
Bei ausgeprägten Fettstühlen, häufiger Diarrhö oder fettiger Kost sinkt die Akzeptanz stark. Sprich gezielt auf Fettgehalt in der Ernährung und zeitversetzte Einnahme fettlöslicher Vitamine an. :::
Inkretinbasierte Therapien – GLP-1-Rezeptoragonisten
Wirkmechanismus: Verstärken das Sättigungsgefühl über zentrale Effekte im Gehirn und verzögern die Magenentleerung; führen häufig zu verringerter Nahrungsaufnahme.
Beispiel: Liraglutid, Semaglutid
Besonderheiten in der pharmazeutischen Betreuung:
- Anwendung als subkutane Injektion (bzw. auch orale Form bei Semaglutid möglich)
- Dosis wird langsam gesteigert, um Nebenwirkungen wie Übelkeit zu begrenzen.
- Häufige Nebenwirkungen: Übelkeit, Völlegefühl, Erbrechen, Obstipation.
- Warne vor Warnzeichen wie starke, anhaltende Bauchschmerzen (Pankreatitisrisiko), Gallenblasenprobleme oder massives Erbrechen (Dehydratationsgefahr).
- Bei gleichzeitiger Insulin/Sulfonylharnstoff-Therapie besteht Hypoglykämierisiko – hier sollten Selbstkontrollen und Anpassung der Dosis besprochen werden.
- Schrittweise Dosiserhöhung nach Verträglichkeit
- Kleine, fettarme Mahlzeiten
- Langsames Essen und ausreichende Flüssigkeitszufuhr
- Bei relevanter, anhaltender Übelkeit oder Erbrechen: immer ärztlichen Kontakt empfehlen
SGLT2-Hemmer beim Typ 2 Diabetes
Diese Wirkstoffklasse ist nicht primär zur Adipositastherapie zugelassen, wird aber in der Diabetestherapie wegen günstiger Effekte auf Gewicht, Blutdruck, Herz und Niere eingesetzt (z. B. Empagliflozin, Dapagliflozin). Beachte:
- Infektionen im Urogenitalbereich durch Glukosurie möglich
- Risiko für Volumenverlust und ggf. Dehydratation, besonders bei Infekten oder perioperativ
- Sehr selten Ketoazidose auch bei annähernd normalen Blutzuckerwerten möglich, v.a. in Fastenphasen
Wichtige Aspekte im Apothekenalltag
Neben der Vermittlung von Arzneimittelwissen rückt die kontinuierliche Betreuung auf Augenhöhe zunehmend in den Mittelpunkt:
- Regelmäßige Verlaufskontrollen anbieten (z. B. Gewicht, Blutdruck, relevante Lebensqualität)
- Frühzeitig auf potenzielle Rückfälle und deren Ursachen eingehen – wertfrei und motivationsfördernd!
- Überwachung der Arzneimitteltherapiesicherheit: Kontrolle auf Nebenwirkungen und Risiken, Rücksprache bei ungeklärten Symptomen
Sonderfälle, die eine erhöhte Aufmerksamkeit und gegebenenfalls ärztliche Mitbeurteilung erfordern:
- Schwangerschaft, Stillzeit, höheres Alter, Multimorbidität
- Hinweise auf psychische Erkrankungen, depressive Episoden oder Essstörungen; hier ist ärztliche/psychotherapeutische Unterstützung essenziell
- Intensive Diätphasen: Hydration, Blutdruck, Elektrolyte, Gichtrisiko, Gallenkolik im Blick halten. Wo relevant, Anpassung bestehender Therapie (z. B. Antidiabetika, Antihypertonika).
Interaktionen, Risiken und Grenzen
Ein klares Augenmerk gilt relevanten Wechselwirkungen (z. B. Lipasehemmer mit fettlöslichen Vitaminen oder anderen lipophilen Arzneimitteln). Arzneimittel zur Gewichtsreduktion sollten nur dann zum Einsatz kommen, wenn Nutzen und Risiken sorgfältig abgewogen wurden.
Selbstmedikationsversuche oder Off-Label-Strategien kritisch hinterfragen, auf Nebenwirkungsrisiken und fehlenden Wirksamkeitsnachweis hinweisen und bei Bedenken unbedingt ärztliche Steuerung empfehlen.
Kontinuität und Langfristigkeit
Adipositastherapie erfordert einen langen Atem: Gewichtserhalt nach Gewichtsverlust ist häufig die größte Herausforderung. Setze auf regelmäßige Beratung, Eigenkontrolle, realistische Zielvereinbarungen und unterstütze die Nutzung digitaler Helfer (Tracking, Apps etc.).
Bringe dich als pharmazeutisches Teammitglied ein! Kommuniziere eng mit Ärzt:innen, Ernährungsberater:innen und, wenn nötig, psychologischer/psychotherapeutischer Unterstützung.
Zusammenfassung
- Adipositas ist eine chronische Erkrankung mit multifaktoriellen Ursachen und schwerwiegenden Begleiterkrankungen.
- Die Beratung in der Apotheke basiert auf einer wertschätzenden, strukturierten Erfassung von Gewicht, Begleiterkrankungen, Risikofaktoren und aktuellen Arzneimitteln.
- Viele Arzneistoffe können das Gewicht beeinflussen—bei Verdacht auf gewichtstreibenden Effekt Rücksprache mit der Ärztin/dem Arzt halten.
- Grundpfeiler der Therapie bleibt die Basisintervention: Ernährung, Bewegung, Verhalten. Arzneimittel sind Ergänzung, kein Ersatz.
- Relevante Arzneistoffgruppen: Lipasehemmer (z. B. Orlistat, Beratung zu fettarmer Ernährung & Vitaminen) und GLP-1-Analoga (Injektion, Dosis steigern, Nebenwirkungen beachten, Hypoglykämierisiko adressieren).
- Achte auf Warnhinweise und Risikofaktoren, vor allem bei Diäten, Multimorbidität, Schwangerschaft, Essstörungen und älteren Menschen.
- Regelmäßige Verlaufskontrolle, Eigenbeobachtung und interprofessionelle Zusammenarbeit sichern die Therapiesicherheit und fördern die langfristige Gewichtsstabilisierung.
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